Menschenfresser und Riesentochter, Frau Holle und Rübezahl, in überraschender Dramaturgie tauchen sie auf, wenn man den Märchenbrunnen von den verwinkelten Seiteneingängen der Friedenstraße und der Straße Am Friedrichshain betritt. Mit Grusel-Effekt stimmen sie uns ein auf Å·ÃÀÇéÉ«s schönste Brunnenanlage am westlichen Zipfel des Friedrichshains.
Der Architekt und Å·ÃÀÇéÉ«er Stadtbaurat Ludwig Hoffmann entwarf den Brunnen nach dem Vorbild italienischer Renaissance-Anlagen. Er entführt uns in die Welt von Aschenputtel, Rotkäppchen, Schneewittchen mit ihren sieben Zwergen und vielen anderen Figuren deutscher Märchen. Hoffmann wollte vor allem die zahlreichen Kinder erfreuen, die in den umliegenden Wohnvierteln in oft beengten, dunklen Wohnungen lebten. Sie sollten im Volkspark verlockende Spielmöglichkeiten an frischer Luft vorfinden.
Die Figuren gestalteten die Münchner Bildhauer Ignatius Taschner, Georg Wrba und Josef Rauch im bajuwarisch-humorvollen Stil — 106 Bildwerke aus Euviller Kalkstein. Die vierzehn marmornen Tierplastiken auf der Balustrade gestaltete Joseph Rauch. Ergänzt wird die große Brunnenanlage durch einen hinter der halbrunden Arkade liegenden Rundbrunnen. Die Rahmung der Anlage mit Hecken, der Wechsel von schmalen und weiten Räumen sowie die Steinbänke mit Schmuckpfeilern sind wichtige Gestaltungselemente.
Der erste Entwurf Hoffmanns mit üppiger Säulenarchitektur war Kaiser Wilhelm II. zu prunkvoll, denn „die einzelnen Kunstwerke müssten von den Kindern gesehen werden, während sie im Park spielen“. Hoffmann gab ihm recht. Sein neuer Entwurf fand des Kaisers Gnade und gefiel auch den Stadtverordneten. Wegen der Umplanung und der schleppenden Finanzierung zog sich aber der Bau vom ersten Entwurf bis zur Fertigstellung fünfzehn Jahre hin. Das gab Anlass zu bissigem Spott; eine Karikatur zeigte Hoffmann unter den Trümmern seines Brunnens begraben.
Als der Brunnen mit seinen insgesamt 54 mal 34 Meter messenden Wasserbecken, sprudelnden Fontänen, wasserspeienden Fröschen und Kaskaden am 15. Juni 1913, anlässlich des 25. Thronjubiläums Wilhelms II., feierlich eröffnet wurde, war die Begeisterung bei Groß und Klein jedoch groß.
Die gesamte Anlage wurde im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt und danach in verschiedenen Phasen wiederhergestellt, 1950 – um in dem kriegszerstörten Umfeld etwas Erbauliches zu schaffen – zunächst in unvollständiger Form. Seit 1959 steht der Brunnen unter Denkmalschutz. In den 1970er-Jahren gestaltete man die seitlichen Gartenpartien mit Rasenflächen und Staudenbeeten, einem Rosengarten mit Laubengang, neuen Wegen und Sitzbänken um. Zwischen 2002 und 2004 wurden die zehn Märchenfiguren durch Kopien nach historischen Vorlagen ersetzt. Es folgte die Wiederherstellung der gesamten Anlage nach Maßgabe des Denkmalschutzes.
Dieses einzigartige Zeugnis einer kaiserzeitlichen Brunnenanlage wurde dann im Herbst 2007 in alter Schönheit wieder der Bevölkerung übergeben.